Zwischen Peitschenhieben und Liebeslügen

Im Wien der 1990er-Jahre kämpft Ernie mit den Tücken der Liebe und den Herausforderungen des Lebens. Überglücklich zieht er bei Edith ein, der bezaubernden Buchhalterin, die sein Herz schneller schlagen lässt. Doch seine Versuche, ihr seine Liebe zu gestehen, führen in ein Netz aus Missverständnissen und Lügen, das ihn schließlich obdachlos macht. Als er sich inmitten von verärgerten Ex-Freunden und gefährlichen Begegnungen wiederfindet, scheint seine Welt aus den Fugen zu geraten.

Doch Ernie gibt nicht auf. Mit Mut und Entschlossenheit arbeitet er daran, seine Fehler wiedergutzumachen und das Vertrauen von Edith zurückzugewinnen. Während er sein Leben neu ordnet, wächst ihre Freundschaft wieder auf. Schließlich erkennt Edith, wie sehr Ernie sich verändert hat, und sie wagen einen Neuanfang. Ein Jahr später, als sie gemeinsam in eine neue Wohnung ziehen, blicken sie hoffnungsvoll in die Zukunft und sind bereit, jede Herausforderung gemeinsam zu meistern.

January 2004

Kapitel 1

Ernie war mehr als nur glücklich. Es war diese Art von Glücksgefühl, die im Herzen begann und sich über die Lunge zum Hals ausbreitete. Fast schien es, als könne er vor lauter Freude kaum mehr atmen.

Die Trafikantin hingegen sah unendlich traurig aus. Sie hatte deprimierend rotes Haar, trug melancholisches Rot auf den Lippen, und der Lidschatten ließ ihre betrübten Augen noch freudloser wirken. Jedenfalls nahm Ernie an, dass die Trafikantin tiefbetrübt sei, weil sie ihn verärgert ansah, als er mit einem breiten Lächeln ihren Laden betreten hatte.

“Zehn Meldezettel,” verlangte er fröhlich. “Bitte,” fügte er hinzu, um die arme Frau nicht noch mehr zu ärgern.

Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie einen kleinen Block aus einer verborgenen Lade heraus. Zweimal zählte sie die Blätter ab. Mit einem heftigen Ruck riss sie die Meldezettel vom Block, zählte nochmal und reichte sie Ernie.

Er wollte sie schon nehmen, als sie ihre Hand wieder zurückzog und schroff “Zehn Schilling!” verlangte.

Ernie griff tief in die Tasche seiner Jeans und holte die einzige Münze heraus, die sich dort befand.

Nachdem er gezahlt hatte, rannte er aus dem Laden. Er war einfach zu glücklich, um sich den Tag von einer verärgerten Dame vermiesen zu lassen.

Erst zehn Minuten später merkte er, dass er die Meldezettel gar nicht mitgenommen hatte.


Der Grund für Ernies Freude war eine Frau. Sie hieß Edith und hatte wahrscheinlich das süßeste Lächeln überhaupt. Immer wenn Ernie an sie dachte, begann sein Herz mit der dreifachen Geschwindigkeit zu schlagen, was seinem Kreislauf ernsthafte Schwierigkeiten bereitete.

Ernie saß in der U-Bahn. Die anderen Fahrgäste begannen ihn anzustarren. Allgemein wurde es als maßlose Frechheit angesehen, in einem öffentlichen Verkehrsmittel in Wien glücklich zu sein. Anscheinend galt es als angebracht, müde und deprimiert auszusehen. So sahen jedenfalls die anderen aus. Sie ärgerten sich umso mehr, als Ernie verträumt lächelnd aus dem Fenster blickte und sich einfach glücklich fühlte.

Ernie schloss die Augen und dachte an Edith. Ihre kristallklaren blauen Augen glitzerten unverschämt verführerisch und wirkten trotzdem sanftmütig. Mit 26 Jahren war sie zwar um vier Jahre älter als er, das machte aber nichts, weil sie eine besondere Verbindung zueinander hatten, als kennten sie sich aus einem früheren Leben und hätten in diesem endlich zueinander gefunden. Ein weichherziges Lächeln erhellte ihr Gesicht, wenn sie lachte, und ihr goldenes Haar verlieh ihr einen Heiligenschein, als wäre sie der Mittelpunkt des Universums und alles andere wäre später erst um sie herum errichtet worden.

Sie war Buchhalterin in der Steuerberatungskanzlei, die das Unternehmen betreute, in dem Ernie beschäftigt war. Auf einer betrieblichen Führung hatte er sie angesprochen und sich auf Anhieb mit ihr verstanden.

Ernie seufzte.

Er konnte es kaum erwarten, wieder bei ihr zu sein. Edith hatte ihm angeboten, bei ihr einzuziehen, weil sie ein Zimmer frei hatte und sich die Miete nicht leisten konnte. Ernie brauchte dringend eine Bleibe, weil sein Vermieter meinte, er könne mehr Geld verdienen, wenn er anstelle der Wohnung zu Forschungszwecken ein kleines Atomkraftwerk einrichtete. Ernie hatte sofort zugesagt. Er wollte mit Edith zusammen sein.

Vielleicht steckte mehr hinter diesem Angebot. Vielleicht empfand sie etwas für ihn. Er hoffte es jedenfalls.

Ernie öffnete die Augen und begann voller Tatendrang den Meldezettel auszufüllen. Name: Ernst Lombardy. Ein italienischer Name, ziemlich seltsam, da er kein Wort Italienisch sprach, weil sein Großvater aus Italien stammte. Ernie trug seine alte Adresse ein und die neue – Ediths Adresse – darunter. Am Schluss trug er noch das Datum ein: 24. August 1991.

Gerade als er unterschrieb, hielt die U-Bahn plötzlich an und er rutschte mit dem Stift aus. Dabei strich er den gesamten Meldezettel durch.

Aber auch das konnte seiner Laune keinen Abbruch tun. Immerhin war er verliebt.

Einen Moment lang verfinsterte sich sein Blick, als ihm einfiel, dass Edith nichts von seiner Zuneigung wusste.

Die Fahrgäste hörten auf, Ernie anzustarren, weil das Lächeln von seinem Gesicht verschwunden war. Wie es sich gehörte, sahen sie wieder niedergeschlagen aus dem Fenster.

Kapitel 2

Samstagnacht. Die gesamte Wiener Innenstadt strahlte vor Leben. Der Stephansdom bildete die Achse, um die sich die Lichter Wiens drehten. Das Haas-Haus funkelte leise vor sich hin und störte niemanden. Hingegen drohte die Kärntnerstraße vor Leben zu bersten. Touristen, Liebespaare und solche, die es noch werden wollten, lustwandelten in der Fußgängerzone.

Auch Edith und Ernie gehörten dazu. Sie spazierten entlang der Kärntnerstraße und schwiegen. Neben dem Hintergrundlärm der anderen Passanten erfüllten auch andere Geräusche die Nacht. Edith und Ernie lauschten ihnen. In der Johannesgasse prallten zwei Autos zusammen. Ein Mann beging in der Weihburggasse mit einer Heugabel, einer Eisenkette und einer Flasche Helium Selbstmord. Irgendwo in der Ferne weinte ein Kind, weil das Eisgeschäft bereits geschlossen hatte.

Edith erzählte Ernie von ihrer letzten Beziehung. Verständnisvoll nickte er und wagte es vor Nervosität nicht, einen falschen Atemzug zu machen. Dann dämmerte ihm, dass er gar nicht wusste, was ein falscher Atemzug überhaupt war, und wurde noch nervöser.

“Ich habe mich so in ihm getäuscht. Erst als wir richtige Nähe zueinander zu entwickeln begannen, habe ich gemerkt, dass er völlig verrückt ist. Mir begann vor ihm zu ekeln. Unglaublich, dass ich ihn jemals in die Wohnung gelassen habe… dieses Schwein.” Als sie das sagte, verzog Edith das Gesicht und streckte ihre Zunge aus, als müsse sie sich übergeben.

Ernie strahlte sie an, als sei er ein antiker Sonnengott. Er wollte sie trösten, ihm fiel aber nicht ein, wie er das anstellen sollte. Er brachte kein Wort heraus.

Edith sah ihn nicht an. Sie schwieg. Wortlos schritten sie weiter in die Nacht, die Kärntner Straße entlang.

Ernie war die Stille unangenehm. Komischerweise fühlte er sich schuldig dafür, dass Ediths Beziehung in die Brüche gegangen war. Er wollte Edith aufheitern.

“Hey, wie wär’s, wenn wir auf das Haas-Haus klettern?”

Dieser Vorschlag zauberte ein Lächeln auf ihr Antlitz. Es schien, als würde ihm jemand einen Scheinwerfer ins Gesicht halten. Er war von ihr wie geblendet. Die Nachtluft schien mit tausend Farben zu leuchten, als sie ihn ansah.

“Gute Idee. Gehen wir!”


Wie so vieles auf der Welt war auch dies leichter gesagt als getan. Edith und Ernie mussten überhaupt erst zum Haas-Haus gelangen. Nachdem sie eine Weile durch die engen Gassen geirrt waren, beschlossen sie, eine Gasse entlang zu gehen, von der sie überzeugt waren, dass es die falsche war, nur um erstaunt festzustellen, dass sie an ihr Ziel gelangt waren.

Die imposante Glasfassade des Haas-Hauses spiegelte den alten “Steffl” wieder. Eine italienische Touristengruppe hatte beschlossen, dass der einzige Platz auf der Welt, auf dem sie einen Familienstreit anfangen konnten, direkt vor dem Eingang zum Haas-Haus war. Ein dicker Italiener beschimpfte wild gestikulierend seine Frau, die nicht auf ihn achtete und ihren Vetter anschrie. Dieser wiederum verprügelte den kleinen Bruder seiner eigenen Frau. Der kleine Bruder merkte aber nicht viel davon, da er gerade ein neues Highscore auf seinem Gameboy erreicht hatte und fleißig weiterspielte.

Für manch einen stellte so etwas ein unüberwindbares Hindernis dar. Edith und Ernie zuckten mit den Schultern und kämpften sich durch die Menschenmassen. Einer der Italiener fiel um, nachdem ihm seine Frau einen heftigen Schlag mit ihrer Handtasche verpasst hatte. Er stellte sich tot. Nach einer Weile stand er aber wieder auf, weil niemand auf ihn achtete. Die Frau machte sich auf die Suche nach einem neuen Opfer. Edith und Ernie nutzten diese Unterbrechung der Kampfhandlungen, um sich unbemerkt an der streitenden Gruppe vorbeizuschleichen.

Hinter den Italienern lauerte eine andere Gruppe, diesmal waren es japanische Touristen. Sie hielten Edith und Ernie für ein prominentes Liebespaar und begannen, sie zu fotografieren. Hinter den blitzenden Kameras blitzten ihre lächelnden Münder hervor, als posierten sie selbst für eine Zahnpastawerbung.

“Entschuldigung. Können wir bitte durch? Wir sind weder berühmt noch ein Liebespaar!”

Die Häufigkeit der Blitze erhöhte sich.

“Bitte lassen Sie uns durch, denn wenn wir nicht auf die Dachterrasse dieses Gebäudes kommen, werden wir auch nie ein Liebespaar werden.”

Edith warf ihm einen überraschten Blick zu und schob einen Touristen bei Seite.

“Ernie! Dort ist der Aufzug.”

Das Paar verschwand im unscheinbaren Aufzug und gelangte in nur wenigen Augenblicken auf die hell beleuchtete Dachterrasse. Dort herrschte beruhigende Stille.

Sie standen am Geländer und blickten wortlos in die Nacht, die wie ein Nebel über Wien hing.

Es war ein wunderschöner Augenblick, der beiden sicher später in Erinnerung bleiben würde. Das lag weniger an der Romantik der Situation, sondern an den folgenden Ereignissen.

Die Lichter der Großstadt spielten auf Ediths Gesicht. Eine leichte Brise ließ ihr Haar herumflattern, als sei es reine Absicht.

Ernie beschloss, es ihr jetzt zu sagen.

“Ähm… Edith… Soll ich dir eine Bekannte von mir vorstellen?”

Edith blickte weg von der Wiener Skyline und sah Ernie tief in die Augen. Sämtliche feste Materie in seinem Körper schmolz dahin. Er begann an sich zu zweifeln.

“Ja. Wen denn?”, fragte sie.

Ernie griff in die Innentasche seines langen Regenmantels und nahm eine rote Rose heraus.

“Edith, darf ich vorstellen: Rosi!”

Sie lächelte ihn derartig süß an, dass er Angst hatte, vor ihr zusammenzubrechen.

Mit verstellter Stimme sagte er quietschend: “Hallo! Ich bin Rosi! Und wer bist du?” Dabei bewegte er die Rose, als würde sie sprechen.

Edith schien von seinem schwachsinnigen Schauspiel ergriffen. “Ich bin Edith!”, antwortete sie der Rose.

Ernies Augen leuchteten auf. Er setzte fort. “Hey! Wow! Du bist also Edith? Dieser Typ da, dieser Ernie…” Ernie deutete mit der Rose auf sich. “Er spricht immer über dich. Sagt, dass du die wunderbarste Frau auf der Welt bist. Er ist to-tal begeistert von dir und sagt immer, er wolle es so sehr, dass du seine Freundin wärst.”

Er hatte es ihr gesagt. Jetzt begann Ernie vor Erwartung zu zittern.

Wie würde sie darauf reagieren?


Eine Viertelstunde später lag Ernie völlig betrunken in einer Tiefgarage und fragte sich, welchen Sinn das Leben noch hatte.

Edith hatte ihm gesagt, sie wolle keinen Freund und ihn schon lange nicht. Aber wenigstens könne er noch bei ihr wohnen.

“Hast du das gehört? Wir können noch Freunde sein! Kannst du dir das vorstellen? Das wunderschönste Mädchen dieser Welt und ich, die ekelhafteste Kreatur weit und breit, können Freunde sein!”

Er stank nach Alkohol und saß in einer Benzinpfütze. Sein einziger Gesprächspartner war die Rose.

“Ich meine, sie erzählt mir von ihrem Ex-Freund, und was er ihr alles angetan hat… Und ich weiß genau, ich hätte nie getan, was dieser Typ ihr alles angetan hat. Aber nein, es scheint, ich bin unwürdig!”

Ernie versuchte sich aufzurichten, konnte aber keinen Halt auf dem Benzin-nassen Boden finden und rutschte aus. Mit dem Kopf voran knallte er gegen die graue Wand der Tiefgarage. Dabei ließ er die Flasche Jamaica-Rum fallen. Sie war bereits halb leer. Nicht so die drei anderen Flaschen, die zerbrochen neben ihm lagen. Ernie gab den Versuch auf, aufzustehen, lehnte sich gegen die kalte Mauer und machte es sich bequem. Ihn störte es nicht einmal, dass jemand nur wenige Stunden zuvor gegen die Wand gepinkelt hatte.

“Okay, was soll ich bloß tun, jetzt wohn ich bei ihr. Sehe sie jeden Tag. Jeden Tag! Kannst du dir das vorstellen? Und ich muss mich zurückhalten. Ich höre ihr dann zu, höre mir ihre verdammten Probleme an.” Ernie rülpste. Er kippte gegen ein Auto.

“Und womöglich hat sie auch noch bald einen neuen Freund. Weißt du was das bedeutet? Hey!” Er schüttelte die Rose. “Hey! Warum antwortest du nicht! Keiner antwortet jemals! Kein Mensch!”

Mit einer dramatischen Geste warf Ernie die Rose von sich.

“Ist doch alles Scheiße, das Leben ist einfach beschissen.” Sein Kopf fiel gegen den Kotflügel eines geparkten Autos. Seine Augenlider wurden immer schwerer. Jetzt wollte er schlafen.

Plötzlich strahlte durchdringend helles Licht auf ihn. Zwei Autoscheinwerfer blendeten ihn. Vor ihm brummte ein Auto. Der Motor gab raubtierartige Laute von sich. Hastig kurbelte der Fahrer die Fensterscheibe hinunter und schrie hinaus.

“Du Arsch! Ich will da rein! Ich hab für den Parkplatz bezahlt!”

Auf einmal fand Ernie genug Kraft um aufzustehen. Er lief davon so schnell ihn seine Beine in seinem Zustand tragen konnten.

Als das fremde Auto einparkte, überfuhr es die Rose.

Kapitel 3

Ediths Ex-Freund hieß Kevin. Ja, er wusste, dass er so hieß wie der kleine blonde Knirps aus den Kinofilmen, der stets allein zuhause war. Und ja, er hasste ihn aus ganzem Herzen dafür.

Außerdem hasste er noch Edith, den Typen, der jetzt bei ihr wohnte, und sich selbst.

Sich selbst hasste er, weil er so ein Arschloch war. Eigentlich würde er sich nicht immer für ein Arschloch halten, wenn ihn andere nicht ständig daran erinnern würden. Das ärgerte ihn. Dafür hasste er die anderen und sich selbst umso mehr.

“Dieser kleine Scheißer hat mir mein Mädchen weggeschnappt!”, murmelte Kevin im Dunkeln, als er im Bett lag. “Den kauf ich mir. Ich kauf mir beide!”

In seiner Beziehung hatte Kevin einfach alles vermasselt. Von Liebe war bei Edith niemals die Rede gewesen. Sie hatte ihm nur unheimlich gut gefallen, war gut im Bett und, was sehr wichtig war, hatte eine Wohnung, in die er problemlos einziehen konnte. Er hasste sich dafür, dass sie mit ihm Schluss gemacht hatte.

“Sie mit mir!”, schrie er in die Finsternis seines Hotelzimmers.

“Das musste man sich einmal vorstellen! Keine Frau macht mit mir Schluss!”

Er überlegte kurz.

“Und auch kein Mann…”

Er überlegte weiter.

“Nicht, dass ich jemals mit einem Mann…”

Die Finsternis starrte ihn ungläubig an.

“Hey, willst du mich verarschen!”

Kevin wohnte in einem heruntergekommenen Hotel im 2. Bezirk. Normalerweise war es ein Stundenhotel. Das war auch unschwer zu erkennen, weil vor dem Eingang zu jeder Tageszeit die einschlägigen Damen auf und ab gingen. Der Besitzer war aber froh, einen Dauergast zu haben, dem er viertausend Schilling im Monat abknöpfen konnte. Als Schlosser konnte sich das Kevin leisten. Aber er hasste seine Umgebung, hasste die Leute in der Gegend und hasste den Besitzer.

Ihm fiel auf, dass er überhaupt so ziemlich alles hasste.

Kevin rollte aus dem Bett. Er war wieder einmal betrunken, deshalb dauerte es eine Weile, bis er merkte, dass es nicht deshalb finster war, weil kein Licht eingeschaltet war, sondern weil er die Augen geschlossen hatte. Gleich wie sehr er sich anstrengte, er konnte die Augen nicht öffnen. Seine Augenlider schienen wie zusammengeklebt.

Schmerzvoll prallte er auf den harten Parkettboden und blieb dort liegen.

Zuerst bewegte er seine Finger, dann die Hände, zuletzt stellte er überrascht fest, dass er sogar die Arme bewegen konnte. Daraus folgerte er, dass er in der Lage sein müsste, auch die Augen zu öffnen. So betrunken konnte er doch gar nicht sein.

Sie gingen aber nicht auf.

“Das gibt es doch nicht. Was ist denn los?”

Plötzlich fing sein Wecker an zu läuten. Kevin fluchte. Er hasste den Wecker. Es war Vormittag. Diese Tageszeit hasste er besonders.

Mit geschlossenen Augen schlug er um sich und zertrümmerte die Vase, die eine Putzfrau zur Verschönerung des trostlosen Zimmers auf das Nachkästchen gestellt hatte. Erst nachdem er die Hälfte der Einrichtung demoliert hatte, lag der Wecker brach und still am Boden.

Kaum beruhigt, eilte Kevin zur Badenische.

“Diese Scheiß-Augen gehen einfach nicht auf!”

Er drehte das Wasser auf und begann sich das Gesicht abzuspülen.

“Verdammt, die Augenlider sind ja wirklich zusammengeklebt!”

Kevin spülte und rieb, bis die Lider rot waren. Dabei rieb er sich kleine Hautfetzen vom Gesicht, als er die letzten Klebstoffreste von der Haut kratzte. Endlich öffnete er die Augen.

Im Spiegel betrachtete er sein Gesicht.

“Oh, wie ich meine Visage hasse!”

Jetzt hasste er sie umso mehr, weil seine Wimpern völlig herausgerissen waren. Rot und aufgescheuert hingen die Lider wie Orangenspalten in seinem Gesicht. Zu allem Überfluss konnte er seinen dämlichen Gesichtsausdruck nicht loswerden.

Kevin überlegte.

“Wieso zum Scheißendreck waren meine Augenlider zusammengeklebt? Was habe ich denn gestern überhaupt gemacht!?!”

Es fiel ihm nicht ein. Wenn er versuchte darüber nachzudenken, begannen seine Gehirnwindungen gegeneinanderzureiben, als seien sie brünstige Wasserschlangen.

“Scheiße. Das tut höllisch weh!”

Kevin riss sich zusammen. Er wusch sich gründlich das Gesicht und entfernte noch einige Klebstofffäden.

“Wie ich dieses Gesicht hasse!”

Da war er nicht der Einzige. Viele andere hassten diese Fratze noch mehr als er.

Kevin betrachtete seine Nase.

“Diese dicke, hässliche Hakennase!”

Er betrachtete seine Ohren.

“Die stehen hervor, als ob ich mit Prinz Charles verwandt wäre. Ich hasse Prinz Charles! Der weiß doch gar nicht, was er an seiner Diana hat.”

Traurig senkte er den Kopf. Edith sah aus wie Lady Diana.

“Jetzt ist keine Zeit zu trauern. Jetzt werde ich handeln.”

Kevin schluckte seinen Hass. Dann ging er zum Nachkästchen, auf dem seine Geldbörse lag. Ungeduldig zählte er sein Geld und beschloss, sich einer Gesichtsoperation zu unterziehen.

Kapitel 4

Ediths Wohnung war der Inbegriff weiblicher Gemütlichkeit. Die meiste Zeit war das kleine Apartment aufgeräumt und alles befand sich an seinem Platz. Den Rest der Zeit herrschte aber eine derartige Unordnung, dass manch einer schon gefragt hat, ob hier jemand eingebrochen hatte.

Das letzte Mal, als jemand tatsächlich eingebrochen hatte, ging er gleich wieder, weil es außer eines Fernsehers, einer Einbauküche und einem Doppelbett einfach nicht viel zu holen gab. Außerdem passten dem Einbrecher die Kleider aus Ediths Schrank nicht. Er konnte Mini-Röcke nicht ausstehen, deshalb rasierte er sich nie die Beine.

Als Ernie dort einzog, beschränkten sich seine Mitbringsel auf seine Kleidung, seine Hygienesachen und eine Plastikimitation von Hundekot.

Das war sein Glücksbringer.

Ernie quartierte sich im Schlafzimmer ein. Er bekam ein Viertel vom Kleiderschrank und die Hälfte vom Bett. Zu seinem Bedauern konnte man das Doppelbett auseinanderziehen. So lag er vier Meter von Edith entfernt.

Nachdem der erste Umzugsrummel mit dem üblichen Chaos beendet war, konnte Ernie endlich aufatmen. Jetzt hatte er Edith für sich allein.

Bloß konnte er sie nirgendwo finden.

Nach einiger Zeit bürgerte sich eine Art von friedlicher Koexistenz ein, bei der die beiden Mitbewohner einander nie zu Gesicht bekamen. Edith sorgte dafür, dass jeder sich an seine Wohnungshälfte, seine Badezimmerzeiten und seine Aufstehzeiten hielt.

Ernies gescheitertes Liebesangebot und Ediths Absage warfen ihre grausamen Schatten auf das Zusammenleben. Im Durchschnitt sah Ernie Edith siebenundzwanzig Sekunden am Tag.

Die ersten Tage waren für ihn die reinste Qual. Wenn Ernie seine Mitbewohnerin tatsächlich antraf, wusste er einfach nicht, was er sagen sollte. Er stand einfach vor ihr und starrte sie hilflos an wie ein kleines Kind.

Eine Mauer des Schweigens hatte sich zwischen ihnen ausgebreitet. Sie sprachen nicht miteinander, aßen nicht miteinander und gingen nicht miteinander aus. Als sich Ernie einmal zu Edith ins Bett traute, da verprügelte sie ihn mit einem Stöckelschuh.

Sie war nicht nur wunderschön, sie hatte auch lange genug Unterricht in Selbstverteidigung genommen.

Für Ernie vergingen die Tage wie graue Züge, die einen Bahnhof durchfuhren, ohne stehenzubleiben. Er begann, die Hoffnung zu verlieren, Edith jemals für sich gewinnen zu können. Jeder halbwegs normale Junge hätte ihm gesagt, dass Ernie so ziemlich alles falsch gemacht hatte. Ihm selbst dämmerte das allerdings nur langsam.

Nach zwei Wochen angestrengtem und schweigsamem Zusammenleben beschloss Ernie, die Stille zu brechen. Sie saßen beide am Frühstückstisch. Edith blätterte demonstrativ in einer Modezeitschrift und ignorierte ihn, seitdem er sich entgegen ihrer Gewohnheit zu ihr an den Tisch gesetzt hatte.

“Ahem… Edith…”

Sie blickte entsetzt zu ihm hinüber und durchbohrte ihn ernst mit ihren stahlblauen Augen. Ernie traf das völlig unvorbereitet. Er begann daran zu zweifeln, ob es überhaupt eine gute Idee sei, sie anzusprechen. Vielleicht wäre es besser, bis an sein Lebensende kein Wort mit ihr zu wechseln. So konnte er wenigstens nichts Falsches sagen.

“Ja”, sagte sie sanft. Das Wort hallte in Ernies Kopf, als sei er in einer Kathedrale.

“Ähm, wegen dem, was ich dir auf dem Haas-Haus…” Er konnte einfach nicht weiterreden.

Edith sah ihn mahnend an.

“Naja, was ich dir dann gesagt habe, war nicht so ernst gemeint. Ich glaube, ich war nicht im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte…”

Sie lächelte. Das überraschte Ernie. Sie war gar nicht mehr böse auf ihn.

Ihr Lächeln erwärmte Ernies Herz und schenkte ihm Ruhe. Jetzt, da diese Angelegenheit aus der Welt geschafft war, konnte er getrost als ganz normaler Mitbewohner bei Edith wohnen.

“Nicht, dass du nicht die absolut begehrenswerteste Frau bist, die mir je begegnet ist, es ist nur… du bist nicht ganz mein Typ, weißt du…”, log er.

“Ich glaub dir zwar kein Wort. Ich bin aber bereit, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen.”

Ediths ultra-süßes Lächeln wurde sogar noch mehr ultra und noch süßer.

“Also lass uns doch Freunde sein”, sagte er mit aufgesetzter Unschuld.

Edith stand auf, ging langsam zu ihm und umarmte ihn. In diesem Augenblick wusste Ernie nicht, wie er reagieren sollte. Einerseits war er in diesem Augenblick der glücklichste Mensch auf Gottes Erden, weil er sie in den Armen hielt, andererseits war mit dem, was er ihr vorgelogen hatte, ein Teil von ihm in sich zusammengefallen, wie der Kadaver eines überfahrenen Eichhörnchens, der von Maden zerfressen wird.

“Super! Ernie, es freut mich, dass du das sagst. Ich dachte schon, du bist ein großer Wappler.”

Ernie fühlte sich überhaupt nicht geschmeichelt, murmelte aber “Danke…”

“Heute muss ich weg, um mich mit jemandem im Spüfüm zu treffen, aber morgen gehen wir vielleicht miteinander fort auf einen Kaffee, okay?”

Ernies Gesicht verzog sich zu dem, was er für ein Lächeln hielt.

“Da gibt es noch etwas…” Sie sah ihn mitleiderweckend an und zeigte zur Küche. “Da liegt ein Haufen Geschirr in der Küche…”

Ernie unterbrach sie übereifrig. “Kein Problem, Mademoiselle, ich kümmere mich darum, die Essensreste werden um Gnade winseln.”

Edith strahlte ihn an und gab ihm zum Abschied ein Küsschen.

Die nächsten zwei Stunden spülte Ernie Geschirr. Ihm schien es wie die schönste und wichtigste Tätigkeit seines Lebens.

Kapitel 5

Das Läuten des Weckers zerriss die Luft, als sei es das einzige Geräusch auf der ganzen Welt.

Donnerstag. Fünf Uhr.

Eigentlich hatte das nichts Beunruhigendes an sich. Donnerstag war für Ernie ein Arbeitstag wie jeder andere, bis auf die Tatsache, dass die Banken bis siebzehn Uhr geöffnet hielten. Dieser bestimmte Donnerstag war aber besonders ermüdend für Ernie.

Nachdem er bis Mitternacht Geschirr abgewaschen hatte, war er ins Bett gefallen. Rotäugig und schwach wie neugeborene Hundewelpen standen Edith und Ernie auf. Edith taumelte sofort ins Badezimmer und nahm es für die nächste halbe Stunde in Beschlag.

Ernie hörte Edith im Bad husten und die Spülung betätigen. Anscheinend verabschiedete sie sich von ihrem Mageninhalt.

Als sie das Badezimmer verließ, war sie so blass wie ein frischgestrichener Zebrastreifen und um fünf Kilo leichter.

“Siehst gar nicht gut aus…”

“Hatte eine lange Nacht. Rotwein steht mir nicht. Muss ich mir merken.”

Dann verfiel sie ins morgendliche Koma, aus dem sie erst nach mehreren Tassen Kaffee erwachte.

Ernie ging ins Bad und nutzte die ihm verbleibenden zehn Minuten, bevor er aufbrechen musste.

“Verdammt! Ich komme wieder zu spät!” Ernie lief zur U-Bahn.

Wie immer traf er im Wagen auf die fertigsten Menschen der ganzen Stadt. Betrunkene Fließbandarbeiter, hektische Versicherungsvertreter und selbstverliebte Bankangestellte bevölkerten das Innere der U-Bahn. Sie schienen alle geistig zwischen Schlaf und Verfolgungswahn zu verweilen.

Mit seinen geröteten Augen sah Ernie selbst so aus, als sei er eines gewaltsamen Todes ums Leben gekommen und als Zombie wiederauferstanden. Er musterte die anderen Fahrgäste. Gedankenversunken fuhr er sich mit der Zunge über die obere Zahnreihe. Zunge und Zahnfleisch waren so taub wie lange verstorbene deutsche Komponisten, weil er sich wieder einmal zu lange die Zähne geputzt hatte.

Instinktiv stieg er rechtzeitig aus und verließ die U-Bahn in Hütteldorf. Ernie arbeitete als technischer Zeichner bei Kontaktronix, einem auf den ersten Blick ganz gewöhnlichen Elektronikunternehmen. Es stellte Computerplatinen und ihre Schaltpläne her.

Ernie torkelte zum Kontaktronix-Werk. Wortlos ging er vorbei an den benommenen Gesichtern der wenigen Arbeitskollegen, die zu solch früher Stunde bereits bei der Arbeit waren.

Erleichtert ließ er sich in seinem kalten, harten Bürosessel nieder. Dann starrte er den leeren Bildschirm an.

So verbrachte er den Rest des Vormittags. Nach einigen Stunden sprach ihn zum ersten Mal an diesem Tag ein Kollege an.

“Hey, Ernie. Was ist mit dir? Vor einer halben Stunde hat die Mittagspause begonnen.”

“Mittagspause!”, schnaufte er, als kehrte sein Verstand aus einer anderen Dimension zurück.

Neue Energie schoss durch Ernies schwachen Körper. Einem Blitz gleich raste er aus den Büroräumen in den Gang zur Kantine. Doch als er die Kurve nehmen wollte, blieb er schlagartig stehen.

“Putzfrauen!”

Fassungslos starrte er die Szene an. Wie Bienendronen bearbeiteten sie den Marmorboden. Sie schmierten obskure Substanzen auf die Bodenoberfläche und rieben diese tief in die verborgensten Spalten und Fugen. Als sie aufblickten, musterten sie Ernie abschätzend.

Er machte eine Bewegung auf die nassen Bodenflächen hin.

“Halt!”

Eine markerschütternde Stimme.

Ernie erstarrte zu einer Statue. Sein rechter Fuß schwebte wenige Zentimeter über der feuchten Oberfläche.

“Nicht nassen Boden gehen!”

Ernie begriff. Wie der Balrog, der in den Minen von Moria auf Gandalf traf, konnte er hier nicht vorbei. Sein Körper erschlaffte und er machte einen Schritt zurück.

“Okay, schon kapiert! Ich geh schon.”

Jetzt konnte er eigentlich nur zurück an seinen Arbeitsplatz oder die Toilette aufsuchen. Ernie eilte zum nächsten WC, öffnete die Tür und…

Ein pummeliger fünfzehnjähriger Junge, angezogen im selben Blau der Putzfrauen, saß auf einem kleinen hölzernen Sessel.

“Was machst du denn hier?”, fragte Ernie entsetzt.

“Ich? Ach ja, ich!”, begann der Junge, “Darf ich mich vorstellen, ich bin Flummi, der neue WC-Besetzer.”

“Der neue was!?!” Ernie gab dem Jungen völlig verwirrt die Hand.

“Na ja, die Geschäftsleitung hat nach der letzten Kosten-Nutzen-Rechnung beschlossen, dass das WC zu den Räumen gehört, die am wenigsten genutzt werden. Deshalb hat man mich angestellt, damit immer jemand auf dem WC ist. So werden die Toiletten effizienter genutzt. Hab ich schon gesagt, dass ich Flummi heiße und aus Meidling komme?”

Der Typ strahlte Ernie zielbewusst an.

“Verstehe”, sagte Ernie.

Aus reiner Höflichkeit unterhielt sich Ernie eine halbe Stunde lang mit Flummi. Ihm fiel nicht viel ein, was er ihm erzählen könnte. Um möglichst cool zu wirken, sprach er von den Lokalen, in denen er mit Edith gewesen war. Damit Flummi sich nicht allein fühlte, hinterließ ihm Ernie als Glücksbringer den Hundekot aus Plastik. Er meinte, das passe zum Ambiente.

Leider verlor Ernie die Zeit aus den Augen und versäumte deshalb die Mittagspause.

Kapitel 6

Edith ertappte sich dabei, wie sie an Ernie dachte.

Irgendwie mochte sie ihn. Er war ein guter Zuhörer, deshalb konnte sie ihm fast alles erzählen. Er verstand ihre Probleme und konnte sie trösten. Am wichtigsten war, dass er ihr bei der Miete half und ordentlich war.

Ernie war nicht ihr Typ. Er war nicht nur um vier Jahre jünger als sie, sondern war in ihren Augen einfach kein richtiger Mann. Er hatte einen gewöhnlichen Job ohne Aufstiegsmöglichkeiten. Hingegen wollte sie jemanden mit Ehrgeiz und Biss. Sie wollte jemanden, den sie herzeigen konnte und neben dem sie sich stolz fühlt.

Ernie war da sicher der Falsche.

Edith traf sich mit anderen Männern, von denen sie allerdings schon meistens nach dem ersten Abend die Nase voll hatte.

In dieser Nacht hatte sie einen getroffen, den sie… näher kennenlernen wollte. Sie nahm ihn mit nach Hause.


Ernie brach beinahe zusammen, als Edith ihre neue Bekanntschaft nach Hause brachte.

Als die Tür aufging, war er gerade damit beschäftigt gewesen, herauszufinden, ob die Fernsteuerung des Fernsehgerätes ihn bloß nicht mochte oder ob sie wirklich kaputt war.

Wie ein Haustier, das die Ankunft seines Frauchens bereits von der Ferne aus wahrnahm, blickte er sehnsüchtig auf. Kurze Zeit später ging auch tatsächlich die Tür auf.

“Hi!”, sagte sie verlegen.

“Ja, hallo!”

Blitzschnell räumte er die gesamte Wohnung zusammen und gab ihr einen Begrüßungsschmatzer.

Hinter ihr kam jemand zum Vorschein.

Es war ein blonder Bodybuilder. Seine Brust passte beinahe nicht durch die Tür.

Der Typ lächelte Ernie an.

“Grüß dich, ich bin Nolte!” Er warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Dann sah er Edith an, als wolle er sagen: “Hey, ich dachte, du wolltest mit mir allein sein!”

Edith blickte zu Ernie hinüber und sagte: “Ähm, Ernie, weißt du… Ich… Wir brauchen die Wohnung für ein paar Stunden…”

Ernie konnte es immer noch nicht fassen. Er stand vor ihnen und starrte sie an, als sei er zum Teil einer Wandmalerei geworden. Seine Träume um Edith waren plötzlich zu Glas erstarrt und dieser blonde Bodybuilder mit den erschreckend weißen Zähnen war mit einem Baseballschläger in Ernies Traumwelt eingedrungen und hatte alles zerschmettert.

“Ernie?”, fragte Edith besorgt, weil er sie nur anstarrte und nichts sagte.

“Äh…”, begann er, “Ja, natürlich, wie dumm von mir, klar doch, ihr könnt die Wohnung haben, ein paar Stunden… Hey, kein Problem, ich wollte sowieso gerade gehen…”

Ernie stammelte weiter herum, nahm seine Jacke und ging.

Sie sperrten die Tür hinter ihm ab.

Ernie hatte vergessen, sich die Schuhe anzuziehen.

Kapitel 7

Vollnarkosen sind nicht das, was sie einmal waren.

Das stellte Kevin fest, als der Chirurg begann, langsam an seiner Nase herumzuschneiden. Das Skalpell schnitt tief in die Innenseite seiner Nase und Kevins Nervensystem zappelte vor Schmerzen wie eine Schlange, die bei lebendigem Leib gehäutet wird. Einige wenige Nervenreize drangen zu seinem Verstand vor und manifestierten sich als Schmerz.

Flach auf dem Rücken lag er auf dem Operationstisch. Er spürte zwar keine unerträglichen Schmerzen, doch je tiefer das Messer in sein Fleisch schnitt, desto mehr wurde der gesamte Schmerz zu seinen Zehen umgeleitet.

Trotz der Vollnarkose war er hellwach.

Kevin beruhigte sich, er wollte sich ablenken, deshalb machte er die Augen zu und beschloss über etwas anderes nachzudenken. Wer hatte ihm bloß die Augenlider zugeklebt?

Während Kevin darüber nachdachte, spielte sich in seinem Körper eine sehr eigenartige Entwicklung ab, abgesehen davon, dass ihm die Hälfte der Nase weggeschnitten wurde.

Das Narkosemittel, das in seinem Körper wirkte, war eine Weiterentwicklung eines indianischen Rauschmittels. Die Indianer Nordamerikas hatten vor Jahrhunderten ein Rauschgift entwickelt, das nicht nur Schmerzen linderte, sondern auch Visionen erzeugte. Nach Einnahme dieser Droge musste man sich bloß auf eine bestimmte Art und Weise konzentrieren, dann wurden einem Antworten auf die innersten Fragen offenbart.

Der weiße Mann hatte nie diese Konzentrationsform gefunden, so dachte man, dass dieses Mittel nur zur Narkose verwendet werden konnte. Was man seither auch getan hat.

Wie es das Schicksal wollte, gelang es Kevin, sich auf diese bestimmte Art zu konzentrieren. Er widmete sein gesamtes Bewusstsein der Frage, wer seine Augenlider zugeklebt hatte.

Plötzlich verschwand der Operationstisch und seine gesamte Umgebung aus seiner Wahrnehmung. Kevin glaubte, er schwebe im Weltraum.

Weißer Nebel bildete sich vor seinem geistigen Auge. Je länger sich Kevin auf seine Frage konzentrierte, desto dichter wurden die Nebelschwaden.

Der Nebel formte ein Gesicht.

Kevin erkannte die Züge. Es war der seltsame Typ namens Lelo aus seinem Stammlokal.

Kevin erwachte aus seinem Traum. Inzwischen hatte ihn der Chirurg auf die Seite gedreht und bearbeitete sein linkes Ohr.

Nun wusste Kevin, wer ihm die Augenlider zusammengeklebt hatte. Und er würde sich an ihm rächen, sobald er hier fertig war.

Leider dauerte die Operation drei Stunden länger als geplant, weil der Chirurg eine Skalpellklinge in Kevins Ohr hatte fallen lassen und er sie suchen musste.

Kapitel 8

Ernie war müde und traurig. Ziellos irrte er durch die Stadt und versuchte, nicht an Edith zu denken. Die beißende Kälte der Nacht machte ihm nichts aus, weil sein Körper zu einem nicht unbeträchtlichen Anteil aus reinem Alkohol bestand.

Mittlerweile waren zwei Wochen vergangen, seitdem Edith den Bodybuilder erstmals in die Wohnung mitgenommen hatte.

Diesmal hatte er aber das gleiche Problem wie schon damals. Edith brachte immer noch regelmäßig einen Typen mit nach Hause. Bloß hatte sich inzwischen der Typ geändert. Jetzt war es plötzlich einer mit langem schwarzen Haar und einem Gesicht wie eine saure Zitrone, der die Ehre hatte, mit Edith die Nacht zu verbringen.

Sein Name war Hannes.

Seitdem er das erfahren hatte, hasste er alle, die “Hannes” hießen. Er wollte einfach nicht daran denken, was dieser Typ mit seiner Traumfrau anstellte.

Eigentlich spürte er momentan sehr wenig von dem, was um ihm herum geschah. Er irrte ziellos durch die düsteren Straßen des zweiten Bezirks und träumte vor sich hin.

Wie toll es doch wäre, wenn er eines Nachts die Wohnung betreten könnte, gerade als dieser schmierige Typ die schluchzende Edith auspeitschen und vergewaltigen wollte. Ernie würde ihm dann ganz cool sagen, er solle sich schleichen. Hannes würde ihm dann mit gefletschten Zähnen drohen, er solle verschwinden, sonst würde noch etwas Fürchterliches geschehen.

Ernie würde aber nicht gehen. Er würde gegen den Kerl kämpfen und gewinnen. Edith wäre gerettet.

Sie würde sich dann an seinen Körper schmiegen und mit dem Kopf auf seiner Brust Tränen der Erleichterung weinen. Ernie würde sie streicheln, um sie zu beruhigen und…

“He! Schnorr mir einen Tschick, Oida!”

Ein ekelerregendes Gesicht. Es sah aus wie ein Wesen aus “Krieg der Sterne” oder eine Pfütze Erbrochenem. Erbarmungslos wurde Ernie aus seinen Träumen gerissen.

Es war ein Obdachloser. Sein unrasiertes Gesicht zierte die Spitze eines ungewaschenen Halses, um den er einen dreckigen Rapid-Schal gewickelt hatte. Ein Etwas aus Stoff umhüllte seinen zerbrochenen Körper, das irgendwann vor dem Zweiten Weltkrieg ein Regenmantel gewesen war. Ernie erschrak.

“Na, hast einen Tschick?”

“Ähm, nein… ich hab’ keine mehr!”

Der leicht verrückte Ausdruck im Gesicht des Bettlers wurde wild, so als braue sich ein Sturm darin zusammen.

“Du verdammter Oasch! Willst mir keinen Tschick geben!”

Der Alte holte aus und schlug auf Ernie ein. Ein Schlag traf ihn auf den Mund, der nächste in den Bauch. Ernie fiel zu Boden. Zum Abschluss trat der Penner Ernie zwischen die Beine, wie ein Konditor, der zur Krönung einer Hochzeitstorte einen letzten Sahnetupfer an die Spitze platziert.

So blieb Ernie liegen.

Der Penner durchsuchte ihn hastig. Ernie hatte nur zwanzig Schilling, ein Päckchen Kaugummi und ein Kondom mit abgelaufenem Verbrauchsdatum. Der Alte musterte enttäuscht seinen wenig ertragreichen Fang und verpasste Ernie als Strafe dafür noch einen Tritt in den Bauch. Dieser wand sich, wie eine Nacktschnecke in einer heißen Bratpfanne. Dann spazierte der Sandler davon, als sei nichts geschehen.

Ernie verlor das Bewusstsein….

…und fand sich in seinem Traum wieder, in dem er Edith vor Hannes rettet. Darauf schwört sie ihm ewige Treue…

Kapitel 9

Ernie legte sich auf die Couch, als sei es sein Sterbebett. Er war fast bewusstlos. Edith schüttelte den Kopf, als sie ihn sah.

“Was ist denn passiert?”

Ernie schreckte auf. Er hatte sie nicht kommen gehört.

“Was? Wo?”

“Na mit deiner Lippe, sie ist ja ganz aufgeplatzt!”

Ernie wollte sich von ihr wegdrehen. Er wollte nicht, dass sie ihn so zu Gesicht bekam.

“Das… Ähm, ja, ich bin gegen eine… Plastikflasche, nein, gegen eine Wand gelaufen…”, stammelte er.

“Ja, ja, du hast dich wieder einmal geschlagen…”

“Ich hab mich nicht selbst geschlagen!!”

“So meine ich das doch gar nicht. Jetzt halt mal still! Ich muss die Wunde desinfizieren.”

Ediths warme, weiche Hände verarzteten Ernies Gesicht. Neues Leben floss in seinen Körper.

“Jetzt sei still und beweg die Lippen nicht. Ich muss mich beeilen… Hannes kommt bald, um mich abzuholen. Oh nein, ich muss mich noch umziehen…”


Ernie hatte sich schon lange abgewöhnt, Edith beim Umziehen zuzusehen.

Ein verrückter Kärntner namens Wallace hatte ihm einmal gesagt: “Wenn du hungrig bist, dann lies kein Kochbuch!”

Wenn Ernie nur einen Blick auf Edith werfen würde, wenn sie halbnackt vor dem Spiegel stand, dann würde ihm das noch mehr weh tun. Außerdem machte es sicher keinen guten Eindruck, wenn er wie ein lüsterner Spanner hinter ihr stand und sie anstarrte.

Während Edith unentschlossen eine passende Kombination aussuchte, sah Ernie fern. Er lehnte sich zurück in die Couch und starrte konzentriert auf den Fernseher. Inzwischen ging es ihm wieder besser. Anscheinend klang die Wirkung des Alkohols langsam ab. Dieser hatte zwar den Großteil des Schadens angerichtet. Gleichzeitig hatte er aber auch den meisten körperlichen Schaden der Schlägerei abgefangen.

Ernie wusste nicht einmal, welche Sendung gerade lief. Das war auch unwichtig, er wollte einzig und allein nicht zu Edith hinübersehen.

In der Werbung versuchte eine Frau das Publikum zu überzeugen, dass ein bestimmtes Waschmittel zu Schönheit und Erfolg im Leben führte.

Die nächste Werbung zeigte, wie ein Rasierer einen alltäglichen Mann in den Mann der Zukunft verwandeln konnte. Von lauter Musik begleitet brachen rasierte Männer Weltrekorde, flogen rasierte Männer auf den Mond, heirateten rasierte Männer wunderschöne Frauen (ebenfalls rasiert) und gewannen rasierte Männer einen Pokal beim Grand-Prix.

Ernie versuchte verbissen, sich nicht zu Edith umzudrehen.

Es folgte eine Werbung für die neue Platte von David Hasselhoff. Das wurde Ernie eindeutig zu viel…

Er drehte sich um.

Er sah Edith. Derartig einnehmender Liebreiz strahlte von jedem Zentimeter ihrer Gestalt, dass sie beinahe zu schweben schien.

Ihr zierlicher Körper wurde spärlich von einem engen schwarzen Kleid bedeckt. Sie hatte sich blauen Lidschatten aufgetragen, der ihre blauen Augen zu glänzenden Perlen verwandelte. Sie war schlichtweg…

Wieso bloß richtete sie sich nicht für ihn so zurecht? Wieso immer nur für andere?

Er stand auf und ging zu ihr hinüber. Sie lächelte ihn an.

“Weißt du… du bist wunderschön…”, flüsterte er ihr zu.

Sie sah ihm tief in die Augen. Er nahm ihre Hand in seine und schlang den anderen Arm um sie.

Seine Lippen kamen den ihren näher… Und näher…

Eine fremde Stimme.

“Was soll das denn! Jetzt verstehe ich alles! Edith, es war dir nie ernst mit mir. Du wolltest diesen Typen einfach nur eifersüchtig machen!”

Hannes!

Ernie löste seine Umarmung und starrte den Neuankömmling völlig entgeistert an.

“Was machst du denn hier?”, fragte er entsetzt.

“Wenn es dich nicht stört, so wollte ich mit meiner Freundin den Abend verbringen.” Er sah Edith vorwurfsvoll an. “Aber anscheinend habt ihr beide andere Pläne!”

Edith warf Ernie einen Blick zu, der sagen wollte: “Wenn du das hier zerstört hast, dann…”

Ernie riss sich zusammen. Es war genau das geschehen, was er vermeiden wollte. Er hatte Edith verärgert, indem er sich zwischen ihr und einem anderen stellte.

Plötzlich hatte er eine Idee.

“Aber Hannes, wieso denn? Es ist anders, als es aussieht, ich will eigentlich nichts von… von deiner Freundin. Wir wohnen nur zusammen. Du fragst dich wahrscheinlich, wie man als Bursche mit so einem bezaubernden Mädchen zusammenleben kann, ohne es mal mit ihr zu versuchen.”

“Ja, das tue ich allerdings!”

“Die Antwort ist ziemlich einfach: ich bin homosexuell!”

Edith konnte ihr Lachen kaum unterdrücken.

Kapitel 10

Wollte man sich vornehm ausdrücken, konnte man das Spüfüm ein “Lokal” nennen. Normalerweise wurde es aber als “Absteige” bezeichnet.

Vor langer Zeit war es eine Hasch-Bude gewesen, bis irgendein Gast im Rausch seinen Joint fallen gelassen und das Gebäude niedergebrannt hatte.

Seitdem war es der Treffpunkt schlechthin für Billard-, Dart- und Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spieler. Außerdem war das Spüfüm das ehemalige Stammlokal von Edith und ihrem Ex-Freund Kevin.

Aus irgendeinem Grund trugen alle im Spüfüm Spitznamen, die direkt aus der Babysprache entsprungen zu sein schienen. Es gab einen Lazi, einen Lelo, einen Lale, eine Lolo und eine Lulu, bloß war letzteres nicht der Name eines Menschen, sondern die Bezeichnung für die Toilette.

Betrat man das Lokal, kam man direkt zum Tresen. Dahinter standen meistens recht finster dreinblickende Kellner, die meistens betrunkener waren als die Gäste. Sie trugen kurze schwarze Hosen und brauchten für jede Bestellung grundsätzlich länger als eine Viertelstunde.

Hinter den für Lokale üblichen Grüppchen von Tischen (wo sollten die Gäste sonst sitzen) befand sich in der hintersten Ecke des Erdgeschosses der Stiegenaufgang zum ersten Stock.

Selbst die Herrentoiletten haben einen eigentümlichen Spüfüm-Geruch, der sich mit dem herkömmlichen Geruch abgestandenen Urins vermengte. Man hat schon lange dort das Schild entfernt, auf dem stand: “Werfen Sie ihre Zigaretten bitte nicht in die Toiletten, wir pissen ja auch nicht in ihre Aschenbecher!”, weil es im Spüfüm üblich war, dass Gäste in die Aschenbecher urinierten. Das hatte dort niemanden wirklich gestört, allerdings begann die Urin-Lacke nach einer Woche, ein wenig zu stinken.

Die Holztreppe führte hinauf in den ersten Stock, wo sich die Billardtische befanden.

Es gab solche Tische, die öffentlich zugänglich waren und es gab solche, die in schalldichten Geheimkammern untergebracht waren. Sie waren nur für die allerbesten Spieler gedacht. Dort wurde um Geld gespielt.

In einen dieser geheimen Billardsäle ging Kevin auf und ab. Lelo leistete ihm Gesellschaft… oder was von ihm übrig war.

Lelo war ein einfacher, normaler, zwielichtiger Videothekenbesitzer, der mit Kevin seinen letzten Scherz getrieben hatte.

Er hatte schon bessere Tage erlebt. Nun hing er an seine Augenlider festgenagelt von der Decke. Seine abgeschnittenen Finger lagen am Boden. Als sein letzter Zahn herabfiel, machte er beim Aufprall kein Geräusch, weil der Boden zu blutgetränkt war.

“Ugh…”, gaben Lelos Überreste von sich. Sie fügten noch ein nachdenkliches “Argh” hinzu.

“Was sagst du, mein Freund?”, fragte Kevin. Er war blutbeschmiert und trug einen sadistischen Ausdruck in seiner Visage. Sein Haar war kurz, weil es ihm vor der Operation abgeschnitten worden war. Nase und Ohren waren knallrot, sahen aber sonst wie neu aus. Was sie auch waren.

“Aguuh!”, antwortete Lelo.

“Ich verstehe dich nicht ganz! Vielleicht hilft das…”, Kevin nahm die zwei Billardkugeln aus Lelos Nasenflügeln heraus.

“So, jetzt müsste es gehen.”

“W-w-warum n-n-nur?” Lelo spuckte Blut und kleine Stücke seiner Innereien heraus, als er stammelte. Sein schwarzes Haar war blutig und sein Gesicht war als solches kaum mehr erkennbar.

“Du meinst, wieso ich dir ein wenig weh tue?” Kevin zerrte mit einem Enterhaken noch ein Brocken Fleisch von Lelos Körper. “Du hast deinen letzten Spaß mit mir getrieben!”

“Was… meinst… du…?”

“Du warst es, der mir die Augenlider zugeklebt hat! Nur weil ich betrunken bin, heißt das nicht, dass du zum Spaß alles mit mir anstellen kannst!”

“Ich…? Dir? Nein… Ich habe dir das nie angetan… Ich habe Kevin die Lider zugeklebt, als er betrunken geschlafen hat!”

Kevin starrte Lelo an. Was ging hier vor? Erkannte er ihn nicht mehr wieder?

“Ich BIN Kevin!”

Lelos Augäpfel drehten sich unter den festgenagelten Augenlidern zu Kevin. Ein kleines Licht des Erkennens entzündete sich in Lelos Augen.

Kevin hatte sich aber abgewandt und betrachtete sein Spiegelbild in der Klinge eines großen Schlächtermessers. Er hatte sich wirklich verändert. Jetzt sah er ganz anders aus. Niemand konnte ihn erkennen.

Ein Plan materialisierte sich in seinem Kopf.

Er würde sich an Edith und diesem seltsamen Typen in ihrer Wohnung rächen, und keiner würde wissen, dass er es gewesen war.

Stolz auf seinen Gedankenblitz, schnitt er Lelo noch alle Zehen des linken Fußes ab und ging.

Unterwegs machte er noch bei einer Telefonzelle Halt und rief einen Rettungswagen. So ein Unmensch war er auch nun wieder nicht.

Kapitel 11

Nur weil er für sie gelogen hatte, wollte Ernie niemals den Kampf um Edith aufgeben. Am Dienstag besorgte er ihr den schönsten Blumenstrauß, den er nur finden und sich leisten konnte. Dann ging er nach Hause und läutete an der Tür.

Edith öffnete ihm und sah ihn erstaunt an.

“Hallo Edith!”, sagte er. Ein unschuldiges Lächeln erhellte seinen Antlitz.

“Hallo Ernie… Wieso wartest du vor der Tür?”

Er brachte den Strauß zum Vorschein und hielt ihn ihr entgegen.

“Ähm… Ich hab’ dir Blumen mitgebracht!”

Edith sah den Strauß völlig befremdet an. Sie lachte vor Freude.

“Blumen? Für mich? Aber Ernie…”

“Edith, ich liebe dich! Ich halte es einfach nicht länger aus, bitte…”

Edith warf Ernie einen Blick zu, der in der Lage war, feste Materie zu zerbröseln. Ernie musste vor Schmerz den Blick von ihr abwenden. Sie brauchte nichts zu sagen. Ernie begriff sofort.

“Ach was! Vergiss es, Edith…”

Resignativ verließ Ernie das Haus, ging auf die Straße zur nächsten Mülltonne und warf den Blumenstrauß weg.

Eine halbe Stunde später sammelte der Sandler, der Ernie verprügelt hatte, den Strauß auf, schenkte ihn seiner Frau und machte sie damit sehr glücklich.


Die nächsten Tage ging Ernie Edith aus dem Weg. Er wusste, dass er sie mit den Blumen geärgert hatte. Außerdem tat es ihm weh, sie zu sehen, ohne ihr sagen zu dürfen, was er für sie empfindet.

Eines Tages saß er in seiner Ecke der Wohnung und las eine alte Ausgabe von “Rennbahn Express”. Darin beschrieb der Liebesratgeber, was man tun sollte, wenn man sich in jemanden verschossen hatte und seine Aufmerksamkeit erregen wollte.

Ernie fühlte sich zu alt für diesen Ratgeber. Nicht, weil ihn das alles nicht mehr betraf, sondern weil er alles bereits versucht hatte.

Er fragte sich, ob es denn überhaupt noch irgendetwas gab, womit er ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte.

Edith stürmte aus dem Badezimmer. Sie hielt etwas in der Hand, das Ernie für ein schwarzes Putztuch hielt. Er war sich aber nicht sicher, weil ihm das Ding auf andere Weise bekannt vorkam.

“Ernie!”, schrie sie ihn an.

“Ja?”, er sah sie verträumt an, als tobe sie hinter einer dicken Glaswand.

Sie hielt ihm den schwarzen Wollfetzen vor die Nase.

“Wenn du wieder meinen Wollpullover bei sechzig Grad in die Maschine steckst, dann…”

Jetzt erkannte er den schwarzen Pullover. Er war so klein zusammengeschrumpft, dass man ihn einer Katze anziehen könnte.

“Tschuldige…”, sagte er pflichtbewusst, aber trotzdem desinteressiert.

Das reichte Edith nicht. Sie war außer sich vor Zorn.

“Hast du verstanden?”

Langsam ging sie ihm auf die Nerven. Er konnte nur ihre Aufmerksamkeit erregen, wenn er etwas falsch machte.

“Aber ja doch! Weißt du, du klingst wie so eine Tussi aus einer Waschmittelwerbung!”


Einige Tage später wuchsen Edith und Ernie wieder zusammen.

Sie saßen auf dem Teppich und hatten sich gegen die Couch gelehnt. Zwei Flaschen Rotwein und Gläser standen neben ihnen und Ernie hielt eine Schüssel mit Popcorn, in die Edith immer verstohlen hineingriff, um dann minutenlang an einem einzelnen Popkorn herumzunagen, während sie sprach.

“Weißt du, Hannes war eigentlich nicht wirklich mein Typ. Ich weiß nicht, was ich an ihm gefunden habe. Er hat mich ziemlich schlecht behandelt.”

Ernie starrte auf den Teppichboden und machte einen Schluck aus seinem Rotweinglas.

“Warst du in ihn verliebt?”, fragte er.

“Ach, Ernie, ich weiß nicht… anfangs vielleicht schon… Weißt du, was das Verrückte ist, er hat mir sogar Vorschriften gemacht, was ich anziehen soll!”

“Was!?! Wirklich!”

“Ja, er hat gemeint, andere Männer würden mich immer anstarren. Ernie… Ich bin froh, dass es mit Hannes aus ist.”

Ernie lächelte. Ja, auch er war froh darüber.

“Ja, ich glaube, es ist das Beste für dich.”, sagte er diplomatisch.

Edith sah ihm ins Gesicht. Sie nahm seine Hand und begann mit seinem Daumen zu kreisen, als sei er ein Joystick.

“Ernie…”, sagte sie fast traurig.

“Ja…?” Er sah sie an.

“Danke, dass du dir das anhörst… Wirklich…” Als sie das sagte, nickte sie langsam.

Ernie war diese Nähe zu viel. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Deshalb beschloss er, vom Thema abzulenken, indem er Edith aufheiterte.

“Ist schon gut… Hey, Edith, weißt du, wenn ICH dein Freund wäre…”

Edith hob seine Hand und warf sie von sich. Sie klatschte gegen Ernies Schoß. Er lächelte sie an.

“…fang nicht schon wieder damit an…”, sagte sie ungeduldig.

“…dann würde ich dir auch Bekleidungsvorschriften machen! Ich würde dir dann nur erlauben, nackt herumzulaufen!”

“Scherzkeks…”

“Nein wirklich! Bist du eigentlich kitzlig?”

Er griff ihr in die Taille und knetete sie durch.

Sie kicherte hilflos.

“Nein! Ernie…”, kicherte sie weiter.

Ernie lachte.

“Ernie, hör’ auf…”, sie schlug auf ihn ein. Ihre Hiebe waren zwar nicht fest genug, um ihm auch nur im Geringsten weh zu tun, sie reichten aber, um ihm zu verstehen zu geben, dass er aufhören sollte.

“Okay, jetzt weiß ich, dass du kitzlig bist!”

Stille.

“Edith?”

“Ja?”

“Könntest du dich je in mich verlieben?”, fragte Ernie.

Edith sah weg. Sie wollte ihn jetzt nicht verletzen. Er war der einzige Mensch, der noch für sie da war.

“Vielleicht…”

In Ernies Augen entzündete sich die Hoffnung.

Kapitel 12

Es dauerte nicht lange, bis Edith einen neuen Freund hatte. Er hieß Anton Huber, wurde aber Toni genannt. Ernie fragte sich, wieso Typen wie Toni oder Hannes für Edith gut genug waren, während sie ihn einfach ignorierte.

Toni gab sich wie ein Italiener. Er hatte kurzes dunkles Haar und Augen, die von Frauen als geheimnisvoll, von Männern aber als dümmlich bezeichnet wurden. Mit seiner Größe von einem Meter siebenundachtzig überragte er Ernie nicht nur um fünf Zentimeter, sondern machte auch eine wesentlich sportlichere Figur.

Ernie beschloss, über diese Unwesentlichkeiten hinwegzusehen. Er verabscheute ihn, wie alle bisherigen Verehrer Ediths.

Ständig fragte er sich nach dem ewigen “Warum?”. Diese Ungewissheit fraß ihn von innen auf wie Termiten einen alten Baumstamm. Warum bloß wollte Edith ihn, Ernie, nicht?

Nachdem er den Großteil seiner Zeit über diese Frage nachgedacht hatte, kam er einfach zu keinem Schluss.


Auch Edith machte sich über Ernie Gedanken.

Da sie eine Frau war, verfügte sie über ein gewisses Maß an Intuition. Sie wusste, dass sie mit Ernie ein grausames Spiel trieb und fasste den Entschluss, dass sich Ernie und Toni vertragen sollten.

Ediths Plan war folgender. Sie und Toni würden zusammen mit Ernie und einer Freundin namens Claudia an diesem Samstag gemeinsam fortgehen.

Sie hatte einen schönen Abend geplant, an dem sie Billard im Spüfüm spielen würden. Edith wollte Claudia mit Ernie verkuppeln. Dann hätte er eine Freundin und würde sie in Ruhe lassen.

Es war ein hervorragender Plan, an dem nichts auszusetzen war. Allerdings verlief der Abend ganz anders als geplant.


Um 19:00 Uhr holte Toni ungeduldig Edith und Ernie von ihrer Wohnung ab. Obwohl es ein wenig kühl war, fuhren sie ohne Verdeck in seinem Mercedes Cabrio zum Spüfüm. Dort wartete Claudia.

Ernie war in ein schweigsames Koma verfallen. Er beobachtete das Liebespaar und das Unbehagen in ihm wuchs stetig an. Bald machte ihn jede Kleinigkeit unruhig. Jedes Mal, wenn Toni Edith berührte, sie streichelte, umarmte oder sogar küsste, wollte Ernie laut aufschreien und heftig auf die beiden einschlagen. Allerdings wollte er den Abend nicht verderben, weshalb er schwieg. Für ihn war der Abend das reinste Fegefeuer, durch das er durch musste, um am nächsten Tag wieder erlöst zu werden.

Sie betraten das Lokal. Ernie fühlte sich so winzig klein und schwach, dass er fast anfing, wie ein kleines Kind zu weinen. So etwas machte einen denkbar schlechten Eindruck auf den Kellner, der Edith gut kannte und sich zu fragen begann, wie so ein schönes Mädchen mit so einem Regenwurm von einem Mann zusammenwohnen konnte.

Wie ein braver Dackel folgte Ernie dem Pärchen. Toni legte seinen Arm um Edith, als sie die hölzerne Treppe hochstiegen. Sie kamen in den Billardsaal. Dort brachte ein Messerstecher aus Ottakring einem aus Simmering bei, wie letzterer eine Billardkugel schlucken konnte – unter Zwang.

An einem Tisch saß Lelo. Vielmehr hatte jemand Lelos mit Gips zusammengeflickte am Leben gebliebene Überreste in die Sitzecke gestellt. Er sah aus wie ein Schneemann. Er hatte Schwierigkeiten dabei, einen Whiskey zu trinken, weil er keine Zunge hatte. Früher hätte er nie gedacht, dass er eine Zunge zum Trinken brauchte.

Ernie war geistig beinahe zusammengebrochen. Er nahm seine Umgebung fast überhaupt nicht mehr wahr.

Plötzlich fiel sein Blick auf Claudia, die an einem Tisch saß. Sie gefiel ihm. Ihr langes dunkles Haar fiel über ihre zarten Schultern wie ein Bergbach über Gestein und ihre großen grünen Augen ließen den dunklen Raum ein wenig heller werden.

Edith strahlte Claudia an.

“Na hello, Schönste! Wie geht’s dir?”

“Meine Edith. So schmeichelhaft wie immer.”

Sie begrüßten einander mit einem Küsschen.

“Claudia. Das ist mein neuer Freund Toni und das ist Ernie.”

“Da schau her. Hallo Ernie. Du siehst ja recht schnuckelig aus.”

Ernie brauchte einen Moment, um wieder sprechen zu lernen.

“Äh… Hallo. Ich… freut mich, dich kennenzulernen.”

Ernie war von ihr wie hingerissen. Der Abend schien gerettet.

Edith merkte, was zwischen den beiden vor sich ging. Breit lächelnd ergriff sie die Initiative.

“Also, was ist denn los hier!? Wollen wir Billard spielen oder wollen wir hier Wurzeln schlagen? Spielen wir im Doppel. Ernie, du spielst zusammen mit Claudia gegen uns.”

Edith zwinkerte Claudia zu, als sie den Queue ergriff.

Ernie war einer der wenigen Menschen in Mitteleuropa, der noch niemals in seinem Leben Billard gespielt hatte. Er war aber überzeugt davon, dass es für ihn kein Problem darstellen würde, ein paar Kugeln in einige Löcher zu stoßen.

“Vier Viertel Rot und vier Tequila!”, bestellte Toni.

Die Runde wurde immer lustiger. Je länger Ernie in Claudias Gegenwart war, desto besser ging es ihm. Er konnte nicht sagen, ob seine Leichtköpfigkeit auf den Alkohol zurückzuführen war oder auf Claudia. Obwohl er mit Claudia jedes Spiel gegen Edith und Toni verlor, fühlte er sich wohl.

Edith küsste Toni.

“Schatzerl! Wir haben wieder gewonnen! Ihr beide müsst wieder eine Runde zahlen.”

Ernie grinste Edith an.

“Getrunken wird, was auf dem Tisch ist. Wenn das weg ist, hole ich uns mehr!” Er war bereits betrunken.

Die Runde setzte sich am Tisch auf die bequeme Sitzbank. Ernie umarmte Claudia.

“Du bist aber ein Stürmischer. Aber das gefällt mir…” Sie lehnte sich zu ihm.

Sie stießen gemeinsam an und kippten die letzten Reste ihres Weines hinunter.

Edith war auch schon betrunken.

“Ich habe Durst! Ich brauche viel Alkohol!”

“Okay”, sagte Ernie, “ich hab’s versprochen. Also hole ich uns was. Der Kellner ist doch nur zu faul, um in den ersten Stock zu kommen.”

Die Welt drehte sich, als Ernie aufstand. Mit einigem Aufwand konnte er aber Halt finden. Er warf Claudia noch einen Blick zu.

“Bleib, wo du bist.” Er sah zu Edith, als tanke er bei ihr Kraft und dann wieder zu Claudia. “Bleib bei mir, Schönste.”

Dann wankte er die Stiegen hinab, als hätten sich die Knochen in seinen Beinen zu Gummi verwandelt. Mit letzter Kraft steckte er sich noch eine Zigarette an, vergaß aber, sie anzuzünden. Als er an ihr zog, hielt er sie für eine Leichtzigarette, weil sie nach nichts schmeckte.

An der Bar holte Ernie eine neue Getränkerunde auf einem Plastiktablett. Der Kellner lachte und gab ihm Feuer.

Ernie deutete auf ihn mit dem Zeigefinger. “Du bist in Ordnung.”

Es kostete ihm sehr viel Anstrengung, mit den Getränken die Stiegen hinaufzusteigen. Diesmal nahm er aber einen anderen Stiegenaufgang, weil er vorhatte, die anderen von der anderen Seite zu überraschen. Er wollte sich unbemerkt an den Tisch schleichen und ihnen die Getränke über die Köpfe hinweg servieren.

Als er dem Tisch schon nahe war, konnte er Toni hören, wie er mit Claudia sprach.

“Hey, Claudia, lass doch die Hände von der Schwuchtel!”

“Wen meinst du?”

“Na, Ernie! Jeder weiß doch, dass der stockschwul ist, also ist es völlig sinnlos, ihm schöne Augen zu machen.”

“Echt? Ich habe mir eh schon gedacht, dass er schwul ist. Er wirkt nicht wirklich männlich. So unentschlossen und verloren. Ich spiel ja sowieso nur ein bisschen mit ihm. Dann scheiß ich auf ihn.”

Ernie konnte kaum glauben, was er da hörte. Er hielt inne. Mit jedem Wort schien ihm die Umgebung des Lokals mehr zu erdrücken. Das Atmen fiel ihm schwer. Er musste sich an der Wand festhalten, um das Tablett mit den Getränken nicht fallen zu lassen.

Vor wenigen Augenblicken war er noch himmelhoch jauchzend gewesen. Jetzt fiel seine Stimmung so weit herab, dass eine Beerdigung für ihn erheiternd wirken würde. Vor allem die Beerdigung Tonis. Wie am Anfang des Abends ergriff die Wortlosigkeit von ihm Besitz.

Ernie riss sich zusammen und ging schweigend zum Tisch. Er stellte die Getränke auf dem Tisch ab. Dann sah er zu Toni. Jetzt wollte er ihn umbringen. Er wollte über ihn herfallen und ihn blutig schlagen.

Toni erkannte in Ernies finsterem Blick, was er vorhatte.

“Ernie!”

Eine Stimme vom Eingang.

“Ernie Lombardy?”

Ernie wandte sich um und sah zur Treppe. Er konnte es kaum fassen: Es war ein Arbeitskollege. Ausgerechnet Flummi, der WC-Besetzer aus Meidling, kam auf ihren Tisch zu.

“Servus Ernie! Ich hoffe, ich störe nicht…”

Ernie war sprachlos vor Erstaunen.

“…du hast mir doch erzählt, dass du in ein Lokal, das Spüfüm heißt, gehst. Und da hab ich mir gedacht, ich schau mal vorbei. Und wen treff ich da! Heh! Was sagen wir Meidlinger?”

Ernie war aufgefallen, dass Flummi immer cool sein wollte. Dieser komische Kautz konnte sich aber nie beruhigen, was gemeinhin als Voraussetzung für das Coolsein betrachtet wurde. Ständig schien er unter Strom zu stehen.

“Wir Meidlinger sagen: ‘Shit, Oida, wie geht’s dir!’ zum Gruß. Also: Shit, Oida, wie geht’s dir!”

Das war zu viel für Ernie. Er wollte schrumpfen und davonkriechen. Jetzt musste er unbedingt seine Wut auslassen und jemanden verprügeln. Ansonsten würde er platzen.

Im letzten Augenblick konnte er sich aber beherrschen. Er setzte ein demonstrativ falsches Lächeln auf.

“Servus, Flummi. Schön dich zu sehen. Komm her, spielst mit uns mit?”

Flummi kam näher und setzte sich auf einen nahegelegenen Billardtisch, der unter dem Gewicht ein schmerzhaftes Knarren von sich gab.

“Ja, sicher, was spielt’s ihr denn?”

“Backe-Backe-Kuchen!”

“Geh wirklich?”

“Nein, Billard.”

“Ach so! Heh, das kann ich aber gut. Ich hab einmal in einem Verein gespielt! Ich kann das. Ich bin sozusagen ein Profi.”

Somit hatte Ernie sein Ventil gefunden. Er würde jetzt mit Flummi mitspielen. So konnte er sich über die anderen lustig machen, so wie sie es über ihn machten. Für ihn ergab die Welt keinen Sinn mehr, also wieso sollte er die Welt ernst nehmen?

“Ja, Flummi, spielst mit mir mit, Oida! Wir Meidlinger halten zusammen!”

“Geh, du bist ja gar kein Meidlinger…”

“Doch, Meidlinger und Ober St. Veiter stammen beide vom Dschingis Khan ab, wir sind verwandt!”

“Yo, Oida, komm, gib mir die Hand!”

Sie klatschten ihre Hände zusammen.

“Ernie, wir sind ein geiles Team.”

Ohne sich den anderen vorzustellen, begann Flummi zu spielen. Anfangs versuchte er, die Kugeln mit dem dicken Ende des Billardstockes zu stoßen. Da ihm das aber nicht ganz gelang, versuchte er es mit dem spitzen Ende.

“Oida, das ist leiwand! Von mir aus können wir spielen.”

Edith, Claudia und Toni saßen da und betrachteten das Schauspiel, als versuchten sie zu entziffern, was vor ihnen geschah.

Sie wollte schon einen Einwand vorbringen:

“Ernie, ich glaube nicht…”

Betrunken antwortete er:

“Halts Maul, Tussi! Wir spielen. Ihr drei gegen mich und meinen Kumpel Flummi, okay?”

Die anderen antworteten nicht.

Flummi baute die Kugeln auf und stieß an.

“So, jetzt seid ihr an der Reihe, los, wir putzen euch weg!”

Mit seinen dicken Lippen grinste er Ernie an. Offenbar hatte Flummi ebenfalls viel getrunken, weil er sich noch unbeholfener verhielt als üblich. Ernie warf Toni einen hasserfüllten Blick zu.

Toni ging zu ihm und packte ihn am Kragen.

“Nenn meine Freundin nie wieder Tussi, verstanden, Arschloch?”

Ernie wollte ihn einfach nicht ernst nehmen. Er spielte betrunkener, als er tatsächlich war.

“Oida, bei uns in Meidling heißt das ‘Wichser’ und nicht ‘Arschloch’!”

Toni’s Griff wurde fester. Ernie konnte kaum mehr atmen. Langsam bekam er Angst. Er schämte sich für sein idiotisches Verhalten. Doch es war bereits zu spät. Er machte weiter, als fahre sein Leben auf Schienen und könne nicht abbiegen.

“Jetzt hab ich euch endlich!”, sagte Kevin vom Stiegenaufgang.

Kapitel 13

Am Samstag um einundzwanzig Uhr herrschte absolute Stille in der Chirurgie. Die Reinigungskräfte hatten schon längst die letzten Blutreste vom Boden gewaschen, alles desinfiziert und waren nach Hause gegangen. Dort wollten sie sich den “Musikantenstadl” ansehen.

Zu den Pflichten der tapferen Frauen, die das Spital sauber hielten, gehörte es, die Überreste von Operationen zusammenzufegen und in einen speziellen Behälter für biologischen Müll zu werfen.

An diesem Abend enthielt der Behälter eine abgeschnittene Nase, Überreste von einem Facelifting, Ohren, Augenlider und einige Fetzen, von denen nicht klar war, zu welchem Körperteil sie gehörten. Normalerweise kam nichts Lebendiges in den Behälter.

Normalerweise…

An diesem Samstag war es anders. An diesem Samstag bewegte sich etwas zwischen den faulenden Fleischresten im Behälter. Etwas, das Rache wollte…

Der Behälter sprang auf. Schleim und Blut hüpften heraus und klatschten neben dem Behälter auf dem Boden. Die Fleischmasse kroch ein Stück.

Nach einigen Metern fiel ihr aber ein, dass sie fliegen konnte. Mit anfangs zaghaften Sprungbewegungen hielt sich die Masse in der Luft. Allmählich kam sie in Übung und konnte selbstsicher fliegen. Sie sah sich um und flog durch ein offenes Fenster in die Nacht hinaus…

Kapitel 14

Ohne Warnung stand Kevin vor ihnen. In der rechten Hand hielt er eine gestachelte Peitsche, in der linken eine Schrotflinte.

Er schoss auf den Billardtisch.

Grüne Fetzen flogen durch die Luft. Billardkugeln sprangen wild herum, als seien sie lebendig geworden. Edith schrie. Toni drückte sie zu Boden und warf sich über sie. Claudia rannte zu Ernie, der wie angewurzelt neben Flummi stand. Er erweckte den Eindruck, irrsinnig mutig zu sein, weil er sich nicht regte, was daran lag, dass er zu fassungslos war, um zu reagieren.

Eine Rauchwolke stieg aus dem Gewehrlauf wie eine gefiederte Schlange. Alle starrten Kevin an. Keiner erkannte ihn.

“So! Jetzt ist es so weit! Jetzt zeige ich es euch allen.” Kevin machte einen Schritt in Ediths Richtung. Toni machte einen Schritt vor ihn und versperrte ihm den Weg.

“Noch einen Schritt weiter und du bereust es!”

Kevins blaue Augen weiteten sich. Wahnsinn loderte darin wie Flammen in einem Hochofen.

“Deine Freundin? Deine…?”

Toni atmete aus. Sein Mundgeruch traf Kevin direkt ins Gesicht.

“Ja, meine Freundin. Wenn du sie auch nur anfasst, dann prügele ich dich so windelweich, dass du nicht mehr weißt, wo oben und…”

Kevin schoss ihm ins Bein.

“So, jetzt kann ich mich dir zuwenden! Edith, ich mach’ dich fertig, ich mach’ dich so fertig, dass du es bereust, mich je verlassen zu haben!”

Edith kauerte ängstlich in einer Ecke der Sitzbank. Kevins Schatten fiel auf sie. Er holte aus und schlug mit der Peitsche auf sie ein.

Auf ihren Armen öffneten sich rote Wunden und Blüten aus reinem Blut sprießten ihr aus der Haut.

Ernie starrte entsetzt auf das Geschehen. Doch dann erkannte er seine Chance. Es war wie in seinem Traum. Edith war in einer Notlage, ihr Freund konnte sie nicht beschützen, da er nun winselnd am Boden lag. Nur Ernie konnte sie noch retten.

Er sprang auf Kevin, rang ihn zu Boden, wurde von ihm abgeworfen und dreimal ausgepeitscht.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht lag Ernie am Boden. Unter Aufgebot seiner letzten Kraft richtete er sich auf und stellte sich zwischen Edith und ihrem Bedroher.

Er brüllte Kevin an.

“Glaubst du, das tut weh? Denkst du wirklich, diese winzige Peitsche tut weh? Glaubst du das wirklich?”

“Ja!”

“Dann hast du recht!”

Ernie kippte um, er konnte die Schmerzen nicht mehr ertragen. Was für ein toller Held er doch war!

Kevin kam immer näher. Ein diabolisches Lächeln dominierte sein Gesicht. Seine Augen rollten von einer Seite zur anderen.

Edith zitterte am ganzen Leib und wiederholte wie in Trance immer wieder ungläubig: “…Kevin… Kevin… Du bist es wirklich… Kevin…”

Auf Kevins Gesicht spielte sich eine eigenartige Metamorphose ab. Wie bei einem Vulkanausbruch öffneten sich seine Augenlider so weit, dass ihm fast die Augäpfel aus den Sockeln kullerten. Die Augenbrauen zogen sich hoch und seine Mundwinkel berührten seine neuen Ohren. Nur seine Nase rührte sich nicht, denn sie hatte sich noch nicht von der Gesichtsoperation erholt.

“Ja, ich bin es wirklich!”

Kevin holte mit der Peitsche aus.

Plötzlich packte ihn etwas am Arm.

“Was!?”

Er wirbelte herum und etwas brach ihm die neue Nase. Die Peitsche fiel ihm aus der Hand und etwas begann, ihn auszupeitschen. Er stürzte auf den Boden und begann zu schreien…

Ernie konnte nicht erkennen, woraus der fliegende Wirbelwind bestand, der Kevin angriff. Es war ein sehr blutiges Etwas, sehr klein und blutig und es flog um ihn herum wie Piranhas mit Flügeln.

Kevin versuchte, es abzuwehren. Dabei konnte er es besser sehen und erkannte es.

“Ich kenne dich!”, schrie er dem unbekannten Ding zu. “Das ist doch unmöglich! Du bist meine alte Nase und… meine alten Ohren. Ihr wurdet doch weggeschnitten!”

Die Ohren, die vor ihm bedrohlich schwebten, waren mit den Überresten von Kevins Nase über blutige Fäden verbunden. Sie flatterten unentwegt und hielten sich damit in der Luft. Mit Venen und Nervenfasern umklammerte das fliegende Ungetüm Kevins Peitsche.

Die Luft um das Ding herum zitterte, als es zu sprechen begann…

“Kevin! Wir sind zu unrecht entfernt worden. Wir haben das Recht auf Leben.” Die offenen Blutgefäße wippten bei jedem Wort hin und her. “Wir sind aus dem Spital geflohen, bevor es zu unserem Grab wurde. Jetzt musst du für deine Sünden büßen. Du sollst wissen, was es heißt, weggeschnitten und für tot erklärt zu werden!”

Es holte aus und schlug mit der Peitsche auf Kevin ein.

Er rollte zu seiner Schrotflinte hinüber und packte sie.

“Ihr glaubt doch nicht, dass das so einfach geht!”, schrie er und drückte ab.

Der erste Schuss traf nicht. Als er noch einmal schoss, erwischte er die Peitsche. Das Ungetüm lachte, zumindest hielten die anderen diese Art von Gurgeln für Gelächter.

Dann sagte es: “Kevin! Du vernachlässigst deinen Körper. Du solltest mehr essen. Wir werden wieder eins, wie es sich gehört!”

Das Ding flog auf Kevin zu. Es flatterte direkt auf sein Gesicht zu und… In seinen Mund hinein.

Edith brachte ein leises Winseln der Furcht heraus, als sie sah, was vor ihr geschah.

Das Ding grub sich tief in Kevins Mund hinein. Es bahnte seinen Weg durch den Rachen. Mit aller Kraft versuchte Kevin, es herauszuziehen. Er gurgelte und schnappte nach Luft. Blut strömte ihm über das Gesicht, als seine Kiefer auseinandergedrückt wurden. Dabei rissen Haut und Fleisch um den Mund herum. Kevin griff sich immer und immer wieder an den Hals, als das Ding seine Speiseröhre hinunterwanderte.

Dann bekam er keine Luft mehr, röchelte, als wolle er, dass es die anderen erfahren und bäumte sich ein letztes Mal auf. Wie ein gesprengtes Hochhaus brach er zusammen und starb.

Niemand machte auch nur einen Laut. Keine Bewegung.

Edith kroch zu Ernie hinüber und umarmte ihn fast wahnsinnig vor Entsetzen. Er legte seinen Arm um sie und drückte sie fest an sich. Immer wieder starrten die beiden auf Kevins toten Körper. Allmählich merkten sie, dass die anderen Gäste sie ansahen.

Lelo lächelte zahnlos.

Flummi lief die Stiegen hoch. Er hatte alles verpasst, weil er im Untergeschoß nach etwas Essbarem gesucht hatte. Er kehrte mit einem Tablett voller Knabbersachen zurück. Der Kellner war hinter ihm.

“Jetzt, wo du mir erzählt hast, dass Ernie schwul ist, wird mir so manches klar”, brüllte er drauf los. “Hab ich’s doch gewusst! Nichts als Ärger mit Ernie. Diese Schwulen machen uns Normalen nur Schwierigkeiten!”

Flummi verzerrte das Gesicht vor Wut und sah den Kellner an.

“Alles seine Schuld, diese warme Sau!”

Kapitel 15

Ernie und Edith hielten einander fest. Mit geschlossenen Augen saßen sie auf dem Boden. Sie wollten nichts von ihrer Umgebung wahrnehmen. Sie hatten zu viel gesehen. Jetzt wollten sie nichts mehr sehen. Edith hatte ihren Kopf in Ernies Armen vergraben und fühlte sich wie ein kleines Mädchen.

“Edith?”, fragte Ernie leise.

“Ja, Ernie?” Ediths Stimme klang dünn und verletzlich.

Zaghaft sah sich Ernie um. Um die beiden herum hatten sich die Gäste versammelt.

“Alles ist wieder gut. Es ist vorbei.”, sagte Ernie.

“Ja… Ja… Es ist endlich vorbei!”

“Ist bei dir alles in Ordnung?”

Langsam hob Edith den Kopf und löste sich von ihm, als seien die beiden ein Knoten, der sich von selbst öffnete.

“Ja… Das heißt nein, Ernie, bitte nimm deine Hand aus meinem BH!”

“Oh ja, entschuldigung!”


Das Gesicht des Kellners lief rot an. Er schrie Ernie an, als wolle er die Luft zwischen ihnen zersetzen mit seiner Lautstärke.

“Verdammt nochmal! Du verdammter Schwuler! Jetzt kann ich keine Gäste in den ersten Stock lassen.” Er deutete um sich. “Ich bin schon seit über zehn Jahren Kellner hier und habe nie etwas auch nur annähernd Ähnliches erlebt! Dafür wirst du bezahlen.”

Ernie konnte nicht glauben, was er da hörte. Nach allem, was geschehen war, nach allen Verletzungen, die er abbekommen hatte, sollte er jetzt an allem Schuld sein? Er schüttelte den Kopf.

“Aber er hat doch uns angegriffen.” Ernie sah zu den blutigen Überresten Kevins hinüber. “Außerdem bin ich nicht schuld, dass er tot ist. Und ich bin nicht schwul!”

Der Kellner hatte sich bereits so sehr in seine Tiraden hineingesteigert, dass er auf Argumente gar nicht mehr hörte. Er wollte nur einen Schuldigen. Mit dem Toten konnte er nicht viel anfangen. Er brauchte jemanden, an dem er seine Wut auslassen konnte. Außerdem wollte er Geld.

“Jetzt streitest du auch noch alles ab, du elender Warmer du. Schau nur, alles voller Blut. Sogar der teure Filz der Billardtische. Das wirst du bezahlen! Ich schicke dir die schlimmsten Schläger von ganz Wien, bis du endlich mit Kohle herausrückst. Ihr Schwulen habt doch genug Geld!”

Der Kellner packte Ernie am Hemd und schüttelte ihn heftig.

Ernie riss sich los. Er hatte die Nase voll. Genug war einfach schon zu viel. Er nahm Edith an der Hand und fauchte den Kellner an.

“Von mir siehst du keinen Groschen! Komm Edith, wir gehen!”

Kapitel 16

Am nächsten Tag ging Ernie zu Kontaktronix. Allerdings wollte er nicht wie gewöhnlich arbeiten gehen. Vielmehr wollte er sich krank melden, um sich von seinen Verletzungen und vom Schock zu erholen.

Außerdem kam er, um ein paar Wörtchen mit den Putzfrauen zu wechseln. Er betrat den Pausenraum der Reinigungskräfte. Diese kleine Kammer widersprach den Naturgesetzen. Sie sah zwar winzig aus, hatte aber genügend Platz für alle 25 Putzfrauen. Dort stank es entsetzlich nach Reinigungsmittel, Schweiß und Zigarettenrauch.

Ernie winkte einer Putzfrau zu und lächelte sie an.

“Ähm… Wie heißt du denn?”

Die übergewichtige Bedienerin machte einen Zug an ihrer Zigarette und sprach während sie den Rauch aus der Nase blies. Das verlieh ihr das Aussehen eines alten Drachen.

“Mein Name ist Margareta! Was wollen?”

Ernie grinste sie so freundlich an, wie es ihm in seinem momentanen emotionalen Tief nur möglich war.

“Ich bin Ernst.”

Die Tränensäcke in Margaretas Gesicht zuckten, als wollten sie fragen, was sie Ernie überhaupt angeht.

“Okay Ernst, was können Margareta tun?”

“Margareta, wie lange arbeitest du schon bei Kontaktronix?”

Sie sah nachdenklich zur Decke, als könne sie dort die Jahre abzählen. Dann machte sie einen Zug von der Zigarette und musterte ihn. Langsam antwortete sie.

“Vierundzwanzig Jahre!”

“Du möchtest nur für Kontaktronix arbeiten?”

“Ja, ich putze die Firma und alle Firmenhäuser und Kneipen seit vierundzwanzig Jahren. Ich will nichts anderes tun!”

“Nichts anderes!”

“Nichts!”

“Nicht mal atmen?”

Ernie grinste breiter. Langsam ging es ihm wieder besser.

“Was?”

“Vergiss es. Margareta, Firmenhäuser und Kneipen, sagst du?”

“Ja, ich putze besonders gründlich die Lokale vom Chef von Kontaktronix. Er hat viele Betriebe.”

“Margareta, kennst du das neue Gasthaus von Kontaktronix?”

“Neues Gasthaus? Nein, das kenne ich nicht.”

Ernie zwinkerte ihr zu.

“Es heißt Spüfüm und ich glaube, du solltest dort mal putzen, besonders im ersten Stock!”


Eines Nachmittags kam eine dicke jugoslawische Putzfrau ins Spüfüm. Sie warf alle Gäste heraus. Selbst der Türsteher konnte sich nicht wehren.

Als das Lokal leer war, sperrte sie hinter sich ab und putzte sechs Tage und Nächte lang. Am siebten Tag ruhte sie.

Als die Belegschaft das Lokal wieder betreten durfte, glänzte alles wie neu. Es roch nach Fichtenwald. Im ersten Stock konnte man keine Spur von der Rauferei finden und selbst Flecken, die seit Jahren zu bestehen schienen, waren verschwunden.

Außerdem waren alle Rum-Flaschen im Kühlhaus leer.

Einen Tag später fand der Kellner Margareta völlig betrunken auf der Herrentoilette.

Kapitel 17

Das Ärgerliche beim Einkaufen ist, dass man immer wieder auf Bekannte trifft, die einen von der eigentlichen Aufgabe ablenken.

Ernie kaufte Proviant ein. Er wollte sich mit Edith in der Wohnung verbarrikadieren und eine Woche lang nur schlafen und fernsehen. Es sollte ihnen an nichts fehlen. Der Einkaufswagen ging über vor Knabbersachen und Getränken.

Als er gerade vor dem Regal mit den Nudelgerichten stand, hörte er eine Stimme.

“Hallo Ernie! Kennst du mich noch?”

Ernie sah sich um, bis er den Besitzer der Stimme ausmachte. Ein großer Mann, der ihm vage bekannt vorkam, rollte seinen Einkaufswagen den Gang hinunter auf ihn zu. Ernie musterte ihn von oben bis unten, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Das schien Wirkung zu zeigen, denn ihm fiel ein, wer das war.

“Hey Hannes. Natürlich kenne ich dich noch. Du warst doch kurze Zeit mit Edith zusammen. Was machst du denn hier?”

“Tja, ich schätze, das selbe, was du hier machst: Einkaufen!”, sagte Hannes.

Ernie warf ihm ein Lächeln zu, als wolle er ihm lieber eine Torte ins Gesicht werfen. Er sah sich um, als ob er zum ersten Mal erkannte, wo er überhaupt war.

“Ach ja, hab kurz vergessen, wo ich gerade bin. Wie geht es dir?”

“Es geht so. Es macht mir nicht so viel aus, Edith an Toni verloren zu haben. Hab aber gehört, dass du mit ihr zusammen bist.”

Das traf Ernie wie ein Tritt zwischen die Beine. Das Thema war ihm unangenehm. Seit dem Vorfall im Spüfüm waren drei Tage vergangen. In dieser Zeit waren Edith und er sehr zusammengewachsen. Sie waren aber Freunde, die ihre Erlebnisse gemeinsam verarbeiten wollten. Er hatte sich um Edith gekümmert, ohne ihre Beziehung zur Sprache zu bringen.

Ernie senkte den Blick und erwiderte.

“Nein, das stimmt nicht. Wir sind nur gute Freunde. Wir haben vieles gemeinsam durchgemacht.”

Hannes sah ihn ungläubig und positiv überrascht an.

“Du bist nicht mit ihr zusammen?”

“Nein, Hannes.” Ernie wurde das Gespräch unbehaglich, merkte aber, wie Hannes sich freute. Wahrscheinlich dachte er, nun könne er wieder mit Edith zusammen sein.

Hannes sah Ernie in die Augen, als suche er dort nach der Wahrheit.

“Echt nicht? Obwohl du mit ihr zusammenwohnst und ich gehört habe, dass sie keinen Freund hat?”

“Ja. Wenn sie keinen Freund hat, dann ist sie auch nicht mit mir zusammen”, warf ihm Ernie verärgert entgegen.

“Aber das bedeutet…”

Ernie unterbrach ihn. “Was bedeutet das?”

Hannes begriff langsam, was Ernie von ihm annahm. Deshalb legte er eine andere Gangart ein. Mit sanfter Stimme setzte er an, als beginne das Gespräch von neuem.

“Ernie, ich habe noch etwas anderes über dich gehört… Ich meine… Empfindest du etwas, wenn du mit Edith zusammen bist?”

“Ach was. Ich habe schon so viele Enttäuschungen hinter mir. Jetzt empfinde ich nichts mehr.” Ernie wollte weg. Er wollte sich in Ruhe Nudeln aussuchen.

“Hat sie dir gesagt, warum wir uns getrennt haben?”

“Nein, Hannes, hat sie nicht”, sagte Ernie ungeduldig.

“Tja, eigentlich stehe ich gar nicht auf Frauen. Ich wollte es mit ihr nur einmal ausprobieren. Es ist nichts für mich. Na Ernie, hast du vielleicht Lust zu mir auf einen Kaffee zu gehen?”

Einen Moment lang blitzte die Welt vor Ernies Augen in Weiß auf. Er fühlte sich schwach und hatte einfach keine Energie für solche Dummheiten. Die Notlüge, die er damals erzählt hatte, suchte ihn immer wieder heim.

Er deutete auf das Nudelregal und sagte: “Ähm… ich habe eigentlich gerade diese Nudeln hier gesucht. Tut mir Leid, Hannes, ich muss jetzt wirklich weiter einkaufen…”

Kapitel 18

“Edith, ich liebe dich!”

Sie lag vor ihm auf der Couch, als sei sie die wiedergeborene Kleopatra. Er saß vor ihr auf dem Teppich und erwartete eine Antwort wie ein kleines Küken, das gefüttert werden wollte.

Edith schlug mit der Faust auf den Polster.

“Ernie, versuch nicht vom Thema abzulenken! Ich habe es satt, dass es mir nachgesagt wird, mit einem Schwulen zusammen zu sein…”

“Sag das nicht, das ist anstößig. ‘Homosexueller’ ist würdevoller!”

“Also gut, mit einem…” Auf Ediths Gesicht schlich sich für einen Moment ein Ausdruck des Zweifels. “…Homosexuellen zusammenzuleben!”

Ernie sah sie müde an.

“Aber ich bin gar nicht homosexuell.”

War denn die ganze Welt völlig verrückt geworden? Ernie hatte diese Notlüge erzählt, damit Hannes nicht dachte, er sei mit Edith zusammen. Er wollte sie nur schützen. Langsam dämmerte ihm, dass eine Lüge, die man tausendmal erzählte, zwar deshalb nicht wahr wurde, andere sie aber für wahr hielten.

“Ernie, ich habe gehört, was mit Hannes passiert ist. Weißt du, dass du ihm sehr weh getan hast?”

“Was!?”

“Ja, ich hab gehört, dass er überhaupt keinen Appetit mehr hat und mit niemandem mehr spricht. Ich glaube, er ist in dich verliebt. Du weist ihn aber zurück.”

“Mich!?! Moment, Moment! Du meinst, Hannes ist in mich verknallt?” Ernie stand auf und schritt nervös auf und ab.

“Ja.”

“Das ist stark!” Er lächelte, weil ihn die Situation an ihn und Edith erinnerte. Wenn sie Hannes nur irgendwie bedauerte, dann würde sie erkennen, wie sehr sie auch ihm weh getan hatte.

Ernie versank so sehr in Gedanken, dass Edith glaubte, er sei in Trance gefallen.

“Ernie?”

Er schreckte auf.

“Ja, Edith.”

Ernie sah ihr in die Augen.

“Ich möchte nicht, dass du weiter bei mir wohnst.” Ihre Stimme klang brüchig und unsicher. “Ich will, dass du ausziehst!”

“Aber…” Ernie spürte, wie ihm heiß wurde. In seinem Kopf bildete sich ein Druck wie im Inneren eines Dampfkessels.

“Bitte… ich möchte es einfach nicht mehr.”

Das konnte nicht wahr sein. Er musste ihr jetzt alles sagen. Vielleicht hatte sie etwas falsch verstanden.

“Aber Edith, ich liebe dich doch! Ich möchte für immer mit dir zusammen sein.”

In seinen Augenwinkeln bildeten sich Tränen hilfloser Wut und Trauer.

“Ernie, du bist vier Jahre jünger als ich!”

Das traf Ernie wie eine Maschinengewehrsalve ins Herz. Es tat weh, dass Edith das Alter als Hindernis empfand. Nichts hatte mehr einen Sinn. Er hatte den Kampf um sie verloren. Damit sah er ein, dass er von Anfang an auf verlorenem Posten gestanden hatte. Er hatte sich etwas vorgemacht, was gar nicht stimmte. In Wirklichkeit hatte er nie eine Chance gehabt. Nun war es Zeit, aufzugeben.

Mit gesenktem Blick drehte er sich weg von ihr.

“Also gut, ich gehe…”

“Es tut mir Leid, Ernie. Weißt du schon, wo du hinziehst?”

Er zuckte zusammen. Was bildete sie sich ein? Gerade eben hatte sie ihm gesagt, dass er ausziehen müsse. Glaubte sie denn, dass er telepathisch Kontakt mit einem Immobilienmakler aufgenommen hatte, der ihm kurzerhand eine neue Wohnung beschafft hatte?

Eigentlich war das jetzt sowieso seine letzte Sorge. Immerhin hatte ihm die Frau, die er liebte, hinausgeworfen. Langsam schüttelte er den Kopf.

“Nein… Ich finde aber schon was.”

Edith sah, wie sehr sie ihn verletzte. Sie blickte ihm nach, als er durch die Wohnungstür ging. Angetrieben von falsch verstandener Hilfsbereitschaft warf sie ihm nach:

“Du könntest doch zu Hannes ziehen. Er ist doch auch schwul, so wie du.”

Kapitel 19

Ernie war am Boden zerstört. Die Welt schien ihm sinnlos und grau, als er ziellos durch die Straßen wanderte. Immer wieder fragte er sich, was er falsch gemacht hatte, doch es schien keine Antwort zu geben. Schließlich beschloss er, doch bei Hannes vorbeizuschauen.

Er klingelte an Hannes’ Tür und wartete. Hannes öffnete und sah überrascht aus.

“Ernie? Was machst du hier?”

Ernie zögerte, bevor er antwortete: “Kann ich kurz reinkommen? Ich brauche jemanden zum Reden.”

Hannes ließ ihn herein. Sie setzten sich ins Wohnzimmer und schwiegen eine Weile, bevor Ernie schließlich sagte: “Edith hat mich rausgeworfen. Sie denkt, ich bin schwul, wegen dieser ganzen Lüge, die ich erzählt habe. Jetzt weiß ich nicht, wohin.”

Hannes sah ihn mitfühlend an. “Das tut mir leid, Ernie. Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist.”

Ernie schüttelte den Kopf. “Ich wollte nur, dass Edith glücklich ist. Aber ich habe alles ruiniert.”

Hannes legte eine Hand auf Ernies Schulter. “Vielleicht kannst du vorerst bei mir bleiben, bis du etwas Eigenes findest.”

Ernie war dankbar für das Angebot. “Danke, Hannes. Das würde mir sehr helfen.”

Kapitel 20

In den folgenden Wochen lebte Ernie bei Hannes und suchte verzweifelt nach einer eigenen Wohnung. Hannes war ein guter Gastgeber, und obwohl Ernie die Situation seltsam fand, fühlte er sich bei ihm wohl.

Ernie nahm sich vor, sich von Edith zu lösen und sein eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen. Er begann, sich um neue Freunde und Hobbys zu kümmern und sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.

Eines Tages, als er nach Hause kam, fand er einen Brief von Edith vor. Zögernd öffnete er ihn.

“Lieber Ernie,

es tut mir leid, dass ich dich so abrupt rausgeworfen habe. Ich habe über alles nachgedacht und mir ist klar geworden, wie unfair ich zu dir war. Ich möchte, dass du weißt, dass ich unsere gemeinsame Zeit sehr geschätzt habe.

Vielleicht können wir uns irgendwann wiedersehen und darüber reden.

Alles Liebe, Edith.”

Ernie wusste nicht, was er denken sollte. Er war wütend, traurig, aber auch irgendwie erleichtert. Vielleicht gab es doch noch eine Chance, alles zu klären. Aber er wusste auch, dass er sich auf sich selbst konzentrieren musste, bevor er wieder auf Edith zuging.

Er nahm sich vor, stark zu bleiben und sein Leben neu zu ordnen. Vielleicht würde die Zukunft doch noch etwas Gutes für ihn bereithalten.

Ende